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Biographie

Leopold Thieme, 1940, Selbstbildnis

Leopold Thieme wurde am 15.Juli 1880 in Rochlitz, Königreich Sachsen, geboren. Er besuchte das humanistische Gymnasium in Zwickau, der Geburtsstadt Robert Schumanns, die im 19.Jahrhundert ein reiches musikalisches und kulturelles Leben aufwies.

Leopold Thieme wohnte in Zwickau bei seinem Onkel, Alexander Göhler, in dessen Haus viel musiziert wurde; dort erhielt er seinen ersten Geigenunterricht. Sein Cousin, mit dem er gemeinsam erzogen wurde,  war der spätere Komponist, Kapellmeister und Musikschriftsteller Karl Georg Göhler (1874-1954).

Thiemes zeichnerische und musikalische Begabung wurde schon früh sichtbar; ebenso stark aber war sein Hang zum mathematisch-technischen Bereich, und so entschloss er sich, den Beruf des Schiffsbau-Ingenieurs zu erlernen. Nach dem Abitur im Jahre 1900  nahm er das Studium an den technischen Hochschulen Dresden und Berlin-Charlottenburg auf und schloss seine Ausbildung  mit Praktika in Stettin und London ab.

Im Jahre 1906 kam er zum ersten Mal anlässlich eines Besuches nach Lübeck, der Stadt, die später seine Wahlheimat werden sollte.Dort lernte er seine spätere Ehefrau, Anni Thieme, geb. Runde, kennen.1907 verlobte er sich mit ihr; 1911 wurde sie seine Frau.

Während seiner Berliner Zeit war Leopold Thieme mit dem Maler Max Beckmann (1884-1950) befreundet.  Als Thieme ihm gegenüber von der Absicht sprach, aus seiner Liebhaberei des Aquarellmalens einen Beruf zu machen, warnte ihn Beckmann mit den Worten: “Man kann keinem raten, Maler zu werden.”

Aber Thieme ließ sich nicht beirren, wechselte den Beruf und ging im Jahre 1908 zu Lovis Corinth (1858-1925) in die Lehre, in dessen Atelier er von 1908-1910 arbeitete. Eine der frühesten erhaltenen Thieme-Arbeiten ist ein Ölbild (Flieder im Garten, 1910), das aus der Zeit bei Lovis Corinth stammen dürfte; es zeigt deutlich impressionistische Einflüsse.

Im Anschluss daran ging Leopold Thieme für eineinhalb Jahre nach Frankreich. In Paris und in Yport (Normandie) reifte in ihm der Entschluss, nicht auf dem Weg der Impressionisten weiterzugehen, sondern sich einer realistischen Zeichnungsweise mit klaren Konturen und geometrisch geordnetem Bildaufbau zuzuwenden. Von nun an wurde die Rohrfeder sein bevorzugtes Zeicheninstrument; seine ersten Zeichnungen in der Technik, die er als sein persönliches Ausdrucksmittel sah, sind Zeichnungen von Schiffen, Häfen und Schleusen in der Normandie.

Nach seinem Frankreich-Aufenthalt hielt sich Thieme kurzzeitig noch einmal in Berlin bei Lovis Corinth auf; er beteiligte sich an Ausstellungen der “Berliner Sezession” bezw. des “Deutschen Künstlerbundes”.

Seit 1915 lebte er als freischaffender Maler, Zeichner und Radierer in Lübeck. Im ersten Weltkrieg diente er als Stabsoffizier in einem sächsischen Artillerieregiment. In Frankreich skizzierte er Bilder von zerstörten Häusern, die er später als Radierungen veröffentlichte. Einige dieser Werke befinden sich in der Thieme-Sammlung des St. Annen-Museums Lübeck.

In der Zeit zwischen 1915 und 1930 schuf Thieme eine Fülle von Radierungen und Federzeichnungen. Seine bevorzugten Themenkreise waren Lübeck-Motive, daneben auch andere Städtebilder (Venedig, Köln, Heidelberg, u.a.) sowie Landschaften aller Art; hierbei interessierte ihn nicht nur die unberührte Natur, sondern auch das von Menschenhand konstruktiv veränderte Landschaftsbild  - er zeichnete Brücken, Eisenbahnstrecken, Mühlen, Schiffe, Industrieanlagen. Seine Lübeck - Zeichnungen, insbesondere die der großen gotischen Kirchen, faszinieren durch ihren sorgfältigen Bildaufbau und kühne Betonung der Senkrechten. Fast alle seine Zeichnungen sind mit schwarzer Tusche erstellt; nur etwa 5% seiner Federzeichnungen wurden koloriert. Daneben schuf er eine größere Anzahl von Ölbildern; nach eigenem Bekunden hat er allerdings “den Pinsel nie gemocht”.

In der Technik der Radierung war er ein Meister; er besaß eine Druckerpresse und stellte die Abzüge selbst her.

1918 und 1921 wurden seine Töchter Heilwig und Gudrun geboren. Die Familie Thieme lebte zusammen mit Schwägerin und Schwiegermutter  im Hause Travemünder Allee 24 a in Lübeck.

1926 fand in Lübeck die bedeutende “700-Jahrfeier der Reichsfreiheit” statt, ein Fest, welches das gesamte kulturelle  Geschehen Lübecks in besonderer Weise mit einbezog. Die Eröffnungsrede hielt Thomas Mann. Bei der Ausstellung “Lübeck und Lübecker Künstler” war Thieme mit sechs Bildern der meistvertretene von insgesamt 31 Künstlern. Im gleichen Jahr wurde er ausgewählt, das “Lübecker Heimatbuch” zu illustrieren, eine bedeutende Veröffentlichung des Schmidt-Römhild-Verlages, welches in umfassender Weise über die Geschichte, geographische Lage, städtebauliche Entwicklung, Musik, Kunst und Brauchtum der Hansestadt Lübeck informiert. Das Buch enthält 65 Federzeichnungen von Motiven aus Lübeck und Umgebung. Etwa in der gleichen Zeit wurden im Otto-Quitzow-Verlag Lübeck die “Miniatur-Kunstgaben” veröffentlicht; drei davon sind mit Radierungen Thiemes illustriert. Sie gelten heute als bibliophile Raritäten. In einer Reihe weiterer Bücher der Lübecker Heimatliteratur wurden Thieme-Zeichnungen veröffentlicht.

Leopold Thieme betätigte sich auch als Fotograf; in den früheren dreißiger Jahren gewann er einen Preis bei einem Foto-Wettbewerb. Mit seiner Rolleiflex-Kamera, die er auf seinen Wanderungen stets bei sich hatte, wurden die Motive festgehalten; in der Klausur des Ateliers dienten die Fotografien als Vorlage und Inspiration.

Leopold Thieme war nicht nur Maler, sondern auch Musiker. Er war ein sehr guter Geiger, übte viel, beherrschte das klassisch-romantische Repertoire bis hin zu den Violinkonzerten von Beethoven, Mendelssohn, Bruch und Brahms und betätigte sich als Kammermusiker. Bei regelmäßigen geselligen Abenden in seinem gastlichen Hause wurde musiziert, es wurden aber auch Gedichte vorgetragen und über Philosophie diskutiert. Zu den Gästen im Hause Thieme gehörte auch der junge Organist und Komponist Hugo Distler, der mit Thieme zusammen viel musizierte. Es existiert eine Distler-Zeichnung von Thieme aus dem Jahr 1932. Ebenso hatte er Kontakt zu weiteren Kirchenmusikern der Stadt Lübeck (Bruno Grusnick, Leiter des Lübecker Sing- und Spielkreises, in dem Thiemes Töchter mitsangen) sowie Walter Kraft, Organist der Marienkirche, den Thieme porträtierte.

Ein langjähriger Freund und Förderer Thiemes war der Kunsthistoriker und Schriftsteller Abraham Bernardowitsch Enns (1887-1993), der Thiemes Schaffen über 30 Jahre lang publizistisch begleitete. Enns, der später im Alter von 100 Jahren als “der Nestor der Lübecker Kunstszene” bezeichnet wurde, würdigte in seinem 1978 erschienenen Buch “Kunst und Bürgertum” das Schaffen Leopold Thiemes mit seinem Artikel “Leopold Thiemes heimliche Geometrie”.

In der wirtschaftlichen Not der ausgehenden zwanziger und frühen dreißiger Jahre war auch im Hause Thieme das Geld knapp. Mit Hilfe der Verwandtschaft, mit Geigenunterricht und mit Porträt-Malerei hielt Leopold Thieme die Familie mühsam über Wasser. Die regelmäßigen Weihnachtsausstellungen Lübecker Künstler, bei denen auch immer wieder mit Senatsmitteln Werke aufgekauft wurden, bildeten eine gelegentliche Einnahmequelle.

Von 1929 bis 1948 war Leopold Thieme 1.Vorsitzender der Vereinigung Lübecker Bildender Künstler. Er hatte dieses Amt in der Zeit der nationalsozialistischen “Gleichschaltung” inne; A.B. Enns bescheinigt ihm “guten Willen” und “Respekt” für seine Ausübung dieses Amtes in schwieriger Zeit.

Etwa in der Mitte der dreißiger Jahre vollzog sich in Thiemes Schaffen eine allmähliche Stilwende. Er hielt sich in dieser Zeit viel im Elbsandsteingebirge auf; dort entstanden Bilder, in denen jetzt zur detailgetreuen Konturierung auch atmosphärische Elemente hinzutreten - Wolken, Nebel, Lichteffekte. Gleichzeitig änderte er seine technischen Mittel: die Federzeichnungen wurden mit dem Pinsel ergänzt (getuschte Federzeichnung), immer häufiger griff er jetzt auch zur Zeichenkreide und -Kohle, die er bis dahin nur für Porträts benutzt hatte.

1936 äußerte er sich über sein eigenes Schaffen in einem Aufsatz “Vom Erleben der Landschaft”. Etwa in dieser Zeit dürften auch einige Gedichte Thiemes enstanden sein, die erst mehrere Jahrzehnte später veröffentlicht wurden.

1940 starb Thiemes Ehefrau Anni Thieme. In den Jahren um 1940 verließen seine beiden Töchter das Haus zum Studium; beide wurden hauptberufliche Musikerinnen. Heilwig Thieme (1918-2001) studierte Kirchenmusik in Berlin, heiratete den Kirchenmusiker Heinz Markus Göttsche (*1922) und siedelte mit ihm und später fünf Kindern zunächst nach Bad Oldesloe und 1960 nach Mannheim über. Gudrun Thieme (1921-2001) studierte in Hamburg Klavier, kehrte nach Lübeck zurück, war als Privatmusikerzieherin tätig und lebte zusammen mit Leopold Thieme.

In der Nacht des Palmsonntags 1942 wurde die Innenstadt Lübecks, insbesondere auch viele der historischen Kirchen und Bauwerke, bei einem Luftangriff schwer getroffen. In den Monaten und Jahren danach hielt Thieme in großen, bewegenden Bildern die Zerstörungen seiner Heimatstadt fest (Bilderreihe “Zerstörtes Lübeck”, Eigentum der Gemeinnützigen Gesellschaft Lübeck, Standort in der Graphik-Sammlung des St. Annen-Museums, Lübeck. Weitere Arbeiten in der Kunsthalle Kiel)

In den Jahren des Wiederaufbaus  illustrierte Thieme den ersten nach dem Krieg erscheinenden Stadtführer; hierfür griff er teils auf ältere Arbeiten zurück, schuf aber auch viele neue Zeichnungen und verwendete hier ein letztes Mal die Rohrfeder.

In der Lübecker Öffentlichkeit war Thieme inzwischen einer der bekanntesten Künstler. Zu seinem 60., 70. und 75.Geburtstag veranstaltete die Overbeck-Gesellschaft Lübeck Ausstellungen mit seinen Werken. Im Jahre 1955 schrieben die “Lübeckischen Blätter”: “Das Werk Leopold Thiemes bedarf in Lübeck schon lange nicht mehr des hinweisenden Worts: nicht nur in Ausstellungen, sondern auch in Wohnungen begegnen wir seinen Schwarzweißblättern, und in so manche kalte und nüchterne Amtsstube bringen sie einen Hauch persönlicher Wärme.”

 In den Jahren nach 1950 entstanden nur noch Kohlezeichnungen; größtenteils sind es Landschaftsmotive mit ruhigen, großen Flächen und meisterlichen Licht- und Schatteneffekten. 1960 schuf er ein letztes Selbstporträt.

Seit 1961 erblindete Leopold Thieme; er malte und zeichnete, bis sein Augenlicht zu erlöschen begann. Der Schriftsteller A.B. Enns berichtet, dass Thieme seine Besucher nur noch an der Stimme erkennen konnte. Schließlich machte sich eine starke Arteriosklerose seines Gehirns bemerkbar. In den letzten Wochen vor seinem Tod begann er, Bilder zu zerstören.

Leopold Thieme starb im Mai 1963 und wurde unter Streicherklängen beerdigt. Die Stadt Lübeck ehrte ihn mit einer Gedächtnis-Ausstellung, die im Herbst 1963 stattfand.

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